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01. Die Zeusorakel in Dodona und Olympia

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2017-08-26 2023-12-06 26.08.2017
Dodoni Theater 0001
Dodona (Dodoni)

Das antike Hellas war das Land der Orakel. In keiner vorchristlichen Kultur gab es mehr Orakelstätten und Orakelformen als in Griechenland. Schon Homer wusste vom altehrwürdigen Zeusorakel in Dodona zu singen, wo der Göttervater seinen Schicksalswillen durch das Rauschen einer uralten Eiche zu erkennen gab. Aber nicht nur Götter wie Zeus, Apollon oder Hermes konnten befragt werden; auch Heroen und Halbgötter wie Asklepios oder Trophonios besaßen ihre heiligen Stätten, an denen sie den Menschen im Traum erschienen und weisen Rat gaben. Daneben wusste man von Orten, die als Eingang zur Unterwelt galten, an denen man mit den Abgeschiedenen kommunizieren und Wichtiges über die Zukunft erfahren konnte wie am Kap Tainaron an der Südspitze der Mani-Halbinsel oder im Nekromanteion von Ephyra, wo die Unterweltsflüsse Acheron und Kokytos zusammenströmen. 

Darüber hinaus gab es wahrscheinlich fast in jeder Stadt kleinere Orakel, die mit geringem Aufwand und einfachen Regeln auskamen wie etwa in Patras, wo ein Hermesorakel mit Hilfe eines ins Wasser getauchten Spiegels Aufschluss über die persönliche Zukunft des Befragers zu geben versprach. Selbst mit den einfachsten Mitteln glaubte man etwas Bedeutsames über die Zukunft erfahren zu können, etwa wenn ein Frager nach entsprechender Vorbereitung auf dem Marktplatz die bis dahin zugehaltenen Ohren öffnete und aus dem ersten Wort, das er in diesem Moment hören konnte, etwas für ihn Bedeutsames erkannte.  

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Dodona (Dodoni)

Dieses gesteigerte Interesse, das eigene Schicksal in Einklang mit dem Wissen vom Willen der Götter zu bewältigen, ist nicht außergewöhnlich für eine Kultur, aus welcher die klassische Tragödie hervorging. Nach den antiken Hochkulturen, die stets unter der übermächtigen Herrschaft höherer Wesen zu stehen scheinen, tritt erst in Griechenland der einzelne Mensch als ein Individuum auf, das sich zu seinem Schicksal aktiv verhalten kann, als eine Persönlichkeit, die sich bewusst entscheiden, aber zugleich auch durch Unwissen und Irrtum in tragische Verwicklungen geraten kann. So findet sich schon am Anfang der trojanischen Sagen mit dem Bild des Parisurteils eine folgenschwere Entscheidung, die zum Ausgangspunkt gewaltiger Vorgänge werden sollte, und die Geschichte der Opferung der Iphigenie in Aulis ist vielleicht eines der bekanntesten Beispiele für die Tragik menschlicher Entscheidungen im Zusammenhang mit göttlichem Willen.  

Von den griechischen Orakeln scheint heute nur noch Delphi im Bewusstsein der Moderne überlebt zu haben. Für die Griechen selber war aber zunächst das Zeusorakel von Dodona, auf einer Hochebene 22 km südwestlich des heutigen Ioannina in Epiros gelegen, das älteste und ehrwürdigste aller solcher Stätten. Dieser hohe Ruf wird archäologisch durch Funde von Weihgeschenken aus allen Teilen des Mittelmeers bestätigt. Dementsprechend wusste schon Homer von dem Ort zu erzählen, an dem barfüßige Orakelpriester namens «selloi» ihren Dienst verrichteten, und wo späteren Autoren zufolge der Wille des obersten aller Götter im Rauschen einer gewaltigen Eiche zu erfahren sei. Über den Ursprung und die Bedeutung dieser uralten Bezeichnung ist man sich in der Forschung jedoch bis heute nicht einig geworden. Philostrat berichtet:

„[Sie] leben eigentlich von der Hand in den Mund und führen noch kein kultiviertes Leben, sondern sagen, sie würden es nicht einmal so einrichten; denn Zeus habe Freude an ihnen, weil sie mit dem zufrieden seien, was der Ort von selber biete. Sie sind nämlich Priester und der eine hat die Kränze aufzuhängen, der andere Gebete zu verrichten, dem dritten obliegt es, sich um die Opferkuchen zu kümmern, der hier sorgt für Gerstenkörner und Opferkörbe, dieser opfert etwas, und dieser endlich wird es keinem anderen gestatten, das Opfertier zu häuten.“

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Dodona Heiligtum

Neben den selloi liest man außerdem von den weissagenden «Tauben» (peleiai), bei denen man charakteristischerweise nicht genau weiß, ob es sich dabei lediglich um Vögel handelte, die zur heiligen Eiche gehörten, oder um so genannte Priesterinnen, wie es andernorts bei den «Bärinnen» genannten Priesterinnen der Artemis der Fall sein konnte. Der Ausdruck peleiai soll im alten epirotischen Dialekt zugleich das Wort für alte Frauen gewesen sein. In Platons Phaidros sind es dementsprechend drei alte Priesterinnen, die wie in Delphi in entrücktem Zustand weissagten, was sich einem anderen Autor zufolge auch auf das Murmeln und Plätschern einer unter der Eiche entspringende Quelle beziehen konnte. Diese Priesterinnen waren wahrscheinlich enger mit der Göttin Dione verbunden, die ebenfalls in Dodona verehrt und oft mit einer Taube dargestellt wurde. Als Geliebte des Zeus konnten beide sehr wohl gemeinsam verehrt werden. Zeus selbst wurde als Zeus Naios verehrt, was mit dem griechischen Wort für fließen (naein) zu tun hat. Hier ist er der, der im Rauschen der Eiche, im Strömen der Luft und im Fließen des Wassers gefühlt wurde.  

Letztlich waren es somit offenbar alle unmittelbaren Naturvorgänge, die an, in oder unter der Eiche – vielleicht nur zu bestimmten Zeiten oder unter bestimmten Umständen – in höherem Sinn zu deuten waren. Und die mit dem Orakel verbundenen Menschen waren die Mittler im Grenzbereich zwischen der Sprache der gottgetragenen Natur und den Fragen der Menschen. Daneben weiß man, dass es wie in Delphi und an anderen altgriechischen Orakelstätten auch Losorakel gegeben hat.  

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Dodona Heiligtum

Der Vorgang der Orakelbefragung spielte sich in Dodona offenbar so ab, dass die Frage auf ein Bleitäfelchen geschrieben wurde, von denen sich mehrere Hunderte erhalten haben. Beste Voraussetzungen für eine sichere Antwort boten verständlicherweise solche Fragen an das Orakel, die mit einem klaren «ja» oder «nein» zu beantworten waren wie etwa «stammt das Kind meiner Frau von mir oder nicht?» Solche privaten Fragen stammen allerdings, wie man vor allem in Delphi sehen kann, zumeist aus späteren Zeiten, während die Befragung ursprünglich von Fürsten, Königen oder Städten ausging und bedeutende Entscheidungen bei der Kolonisation, bei der Einrichtung der Kulte oder der städtischen Angelegenheiten betraf. Insofern sind die Orakelfragen immer auch ein Spiegel der kulturgeschichtlichen Entwicklung Griechenlands von den ältesten Zeiten bis nach der Zeitenwende. 

Plutarch von Chaironea, selber im 2. Jahrhundert n. Chr. Priester am Apollonheiligtum in Delphi, gibt in seiner Schrift «Über den Niedergang der Orakel» wichtige Gesichtspunkte zu dieser Entwicklung an und ist darüber hinaus eine der wichtigsten Quellen zum Verständnis der Vorgänge während einer Orakelbefragung. An der platonischen Akademie in Athen philosophisch ausgebildet, besitzt Plutarch nicht nur in Bezug auf Wahrheitsliebe eine moralische Autorität hinsichtlich dessen, was er über das Delphische Orakel zu berichten weiß, sondern kennt auch die philosophischen Diskurse über das Orakelwesen, denen gegenüber die heutigen Positionen, das Misstrauen und die kritischen Einwände gegen Orakel geradezu naiv erscheinen müssen. 

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Antikes Olympia

Denn damals beschäftigte man sich nicht mit der Frage, ist das nur ein Trick oder hat da jemand etwas inszeniert - was im Einzelfall immer vorkommen kann, aber keine Sicherheit für ein allgemeines Urteil gibt -, sondern mit dem philosophischen Problem, ob und inwiefern die Zukunft überhaupt vorausgesagt werden kann, ganz gleich ob von Menschen, Göttern oder durch andere Mittel. Im Unterschied zur heutigen, etwas schematischen Frage «Determinismus oder Freiheit» gab es nach altgriechischer Vorstellung zwar durchaus Gesetze des Schicksals, dabei jedoch noch unter den Göttern solche, die einen Einfluss auf das gewinnen konnten, was sich aus den Gesetzen für das konkrete Leben heraus ergibt. So erhält der Lyderkönig Kroisos auf die Bitte, seine Stadt möge vom Untergang verschont bleiben, nach Anfrage in Delphi von Apollon die Antwort, der Untergang sei zwar unvermeidbar, aber es sei ihm bei den Schicksalsgöttern zu erwirken gelungen, dass dieser erst nach Kroisos Tod erfolge.

Nachdem unter Kaiser Theodosius im vierten nachchristlichen Jahrhundert die alten griechischen Kulte ausgerottet werden sollten, war die Lage des Heiligtums lange vergessen, bis es 1832, im Todesjahr Goethes, durch den Engländer Christopher Lincoln wiederentdeckt wurde. Aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts war man sich aufgrund der inzwischen aufgefundenen Inschriften sicher, es mit der von den alten Autoren  genannten Stätte zu tun zu haben. Nach den Ausgrabungen von Karapanos und Myneiko bis hin zu Sotiris Dakaris hat man vor einigen Jahrzehnten auf dem Gelände des ehemaligen Orakelortes, eines eher bescheidenen Temenos mit wenigen erhaltenen Grundmauern, wieder eine Eiche gepflanzt, die inzwischen bereits reichlich Schatten gibt. Ihrer Art nach unterscheidet sie sich jedoch von der ihres heiligen Vorläufers, bei dem es sich um einen Baum mit essbaren Früchten gehandelt haben soll, wie es sie heute noch in Spanien gibt. Seit 1996 werden die Ausgrabungen von Konstantina Gravani-Latsiki, Chriseis Tzouvara-Souli und Amalia Vlachopoulo-Oikonomou geleitet.

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Zeus-Zempel Olympia

Neben Dodona besaß Zeus in älteren Zeiten auch in Olympia eine Orakelstätte sowie - als Jupiter Ammon - in der Oase Siwa im heutigen Ägypten. Daneben ist in griechischen Quellen auch von einem Zeus-Amun-Orakel in Theben die Rede. In Olympia lässt sich die einstige Orakelstätte heute nicht mehr exakt lokalisieren, könnte aber im Gebiet südlich des Heratempels gelegen haben. Herodot berichtet, dass der dortige Orakeldienst, bei dem man den Gott durch Opfer befrage, in ganz Griechenland bekannt gewesen sei. In antiken Kommentaren heißt es zum konkreten Vorgehen lediglich, dass die dortigen Priester die Haut der Opfertiere nahmen und ins Feuer legten, um daraufhin weissagen zu können. Daneben soll es nach Hesychos von Alexandria auch Losorakel in Olympia gegeben haben. Was das hohe Ansehen dieser Stätte betrifft, sei nach Strabon der Ort Olympia überhaupt zunächst durch das Orakel berühmt gewesen und erst später durch die dort gegründeten Spiele, die den Griechen immerhin als Grundlage ihrer Zeitrechnung dienten. Dass das Ansehen nach Gründung der Spiele keineswegs schwand, zeigt die Nachricht bei Xenophon, nach welcher eine spartanische Gesandtschaft das Orakel noch im 4. Jahrhundert v. Chr. aufgesucht haben soll.